«Vollgepumpt»: Zustand eines Demenzkranken verschlechtert sich in Psychiatrie rasant

Ein Patient wird gegen den Willen seiner Angehörigen in die Psychiatrie eingewiesen. Dort verschlechtert sich sein Zustand stark. Der Vorwurf: Der Patient wurde unnötig vollgepumpt.

Nach neun Tagen Isolation in der Luzerner Psychiatrie wird der demenzkranke K. Müller ins Spital eingeliefert. Seine Tochter, Angela Müller, besucht ihn und ist schockiert: «Ich habe ihn kaum wieder erkannt.» Noch wenige Tage zuvor habe sie mit ihm im Restaurant des Altersheims gegessen und geschwatzt. Sie zeigt Bilder aus dieser Zeit. Er wirkt zufrieden. Alt, aber relativ gesund. Jetzt liegt er auf dem Bett. Bewegungslos. Und starrt Löcher in die Luft. So erzählt sie es. Obwohl der 76-Jährige völlig apathisch war, wurde er nach dem Spitalaufenthalt direkt noch einmal zwei Tage in Isolation gesteckt.

Wie kam es zur massiven Verschlechterung seines Zustands? Angela Müller ist sicher:

«Er wurde in der Isolation in St. Urban
mit Medikamenten total sediert.» 

Im Spitalbericht wird auch erwähnt, dass sein apathischer Zustand auf die starken Beruhigungsmittel – Haldol, Risperidon, Temesta und Dipiperon – zurückzuführen sei.

Der Kommunikationsleiter der Luzerner Psychiatrie, Daniel Müller, erklärt: «Psychopharmaka führen dazu, dass weniger Zwangsmassnahmen nötig sind und Patienten autonomer leben können. Weiter werden Zwangsmassnahmen von den Betroffenen weniger einschneidend erlebt.» Zum Fall K. Müller könne er aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskunft geben. 

Mittlerweile ist der Besuch in der psychiatrischen Klinik über ein halbes Jahr her und K. Müller ist zurück auf der Demenzstation des Altersheims Linde in Grosswangen. Sein Zustand sei nicht besser, berichtet sie. Seit seinem Aufenthalt in der Klinik könne er weder selbstständig sitzen noch essen. «Ich bin immer noch schockiert, wie er behandelt wurde.» Sie ist traurig, ihren Papi so, wie er noch vor wenigen Monaten war, verloren zu haben, und wütend auf die Institutionen, die ihrer Ansicht nach versagt haben.

Immer öfter erleben Patienten Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie. Schweizweit und auch im Kanton Luzern. Das ergibt eine Recherche der «Luzerner Zeitung»

Örtliche Wechsel schwierig für Demenzkranke

Die Heimleiterin in Grosswangen, Jacqueline Meier, betont, dass man mit Einweisungen in die Psychiatrie sehr zurückhaltend sei und dies nur bei einer massiven Selbst- und Fremdgefährdung tue. Sie erklärt: «Räumliche Veränderungen sind für Menschen mit Demenz eher schwierig. Aufgrund von solchen Veränderungen können auch herausfordernde Situationen entstehen.»

So scheint es auch bei K. Müller gewesen zu sein. Noch am Abend seiner Einweisung kommt er für elf Tage in Isolation. «Das ist doch unmenschlich. Und für Demenzkranke ist das besonders schwierig, sie können sich ja nicht wehren», sagt Angela Müller. Barbara Callisaya, Leiterin der Patientenstelle, bestätigt, elf Tage seien eine sehr lange Zeit. «Man muss davon ausgehen, dass es für diese lange Isolation eine gute Begründung gibt.»

Im Bericht der Psychiatrie, welcher der Redaktion vorliegt, gibt es einen Eintrag zur Begründung der Isolation: Der Patient habe sich aggressiv verhalten. Immer wieder wird im Bericht in den darauffolgenden Tagen erwähnt, der Patient sei agitiert – also unruhig – und aggressiv. Warum er nach einigen Tagen nicht wieder aus der Isolation konnte, wird nicht explizit erklärt. Obwohl die Psychiatrie gesetzlich dazu verpflichtet wäre, regelmässig neu zu beurteilen, ob eine Isolation für weitere 24 Stunden nötig wäre. Auf Anfrage wird Angela Müller seitens der Psychiatrie mitgeteilt, eine ausführlichere tägliche Begründung gebe es nicht.

Mit den Vorwürfen von Angela Müller konfrontiert, erklärt Daniel Müller: «Generell ist es so, dass wir uns beim Thema Zwangsmassnahmen in einem medizinisch-ethischen Spannungsfeld bewegen.» Deshalb sei Zwang niemals «normaler» Bestandteil des Handelns. Der Umgang mit Zwang, Vorgehen, Durchführung, Dokumentation und Betreuung seien genau definiert.

Personalmangel und Zwangsmassnahmen – zwei Seiten derselben Medaille

Eine Recherche des «Tages-Anzeiger» zeigte vor kurzem: Wenn es um Zwangsmassnahmen geht, muss auch das Thema Personalmangel behandelt werden. Denn die Überlastung des Fachpersonals habe zur Folge, dass vermehrt auf solche Massnahmen zurückgegriffen werden müsse.

Das bestätigt auch Jacqueline Meier: «Der Personalmangel kann dazu führen, dass die Belastungsgrenzen tiefer werden und man zum Teil nicht mehr gleich gut auf die Leute eingehen kann. Dann kommt es eher zu herausforderndem Verhalten.» Zum konkreten Fall will Meier keine Auskunft geben. Sie betont aber: «Die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz benötigen besondere Kenntnisse und stellen an Fachpersonen hohe Anforderungen. Dazu benötigt es entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen und ein gutes Zusammenspiel zwischen Kanton, Gemeinden und den Heimen.»

Liridona Dizdari, Vizepräsidentin der Zentralschweizer Sektion des Pflegeverbands SBK, erklärt, dass die Überlastung des Pflegepersonals und der Ärztemangel in der Psychiatrie zur Folge haben, dass die Betreuung teils leidet: «Pflegende berichten uns, dass Konflikte – teilweise begleitet von gewalttätigem Verhalten – zunehmen. Es bleibt einfach zu wenig Zeit, kritische Situationen mit Gesprächen zu entschärfen.» In der Recherche der «Luzerner Zeitung» erklärt auch Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin der Stiftung Dialog Ethik:

«Diese Personalnot ist schon lange bekannt
und führt letztlich dazu, dass das verbliebene
Personal zu diesem letzten Ausweg greifen
muss, damit es überhaupt handlungsfähig sein kann.»

Daniel Müller bestätigt, dass auch die Psychiatrie den Fachkräftemangel «punktuell» spürt. Er betont aber: «Wir können jedoch die qualitativ gute Grundversorgung stets aufrechterhalten und sehen hier insbesondere keinen Zusammenhang mit der Zunahme von Zwangsmassnahmen.»

Grosses Fragezeichen bei der Medikation

In einem Hilferuf haben Berner Assistenzärztinnen und -ärzte darauf aufmerksam gemacht, dass auch vermehrt auf Medikamente zurückgegriffen werde, um Leute ruhigzustellen. Angela Müller, die selbst in der Pflege gearbeitet hat, ist sicher: «Wegen dieser starken Medikamente ist mein Papi heute nicht mehr derselbe wie vor wenigen Monaten. Er wurde vollgepumpt.» 

Sie kritisiert etwa, dass sein Antidepressiva abgesetzt wurde und dass er in der Psychiatrie sehr hohe Dosen an Beruhigungsmitteln erhalten hat. Diese haben starke Nebenwirkungen – «damit wird sein Abbau gefördert». Daniel Müller betont, dass bei Nebenwirkungen die Medikation in der Regel angepasst wird. Weiter erklärt er:

«Erkrankungen an sich können sich vom
Verlauf her verschlechtern. Für Aussenstehende
und Angehörige ist dies teils schwer zu
differenzieren, zu erkennen und zu verarbeiten.»

Angela Müller betont: «Ich streite nicht den Verlauf der Krankheit ab. Aber dass der Zustand innerhalb von sechs Wochen so viel schlechter wurde, kann man nicht mit der Demenz erklären. Das liegt daran, dass sie ihn vollgepumpt haben.» Sie fasst zusammen: «Ich finde es tragisch, dass demenzkranke Menschen letztendlich unter dem Personalmangel leiden. Wir alle werden mal alt und möchten mit Liebe und Respekt behandelt werden.»

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