«Jede Hausarztpraxis könnte eine Pflegeexpertin brauchen» – eine Pionierin kämpft in Aesch gegen den Hausärztemangel

Die erste Pflegeexpertin im Kanton Luzern unterstützt in Aesch eine Hausärztin. Das positive Fazit des vom Kanton geförderten Pilotprojekts regt dazu an, die Rolle der Pflegeexpertin auch in anderen Praxen zu etablieren.

Flavia Thüring-D’Amico geht am Morgen den Plan für ihren Arbeitstag durch: Unter anderem stehen zwei Hausbesuche in Schongau an. Sie arbeitet in einem 30-Prozent-Pensum als Pflegeexpertin für die Hausarztpraxis Aesch und ist in Delegation der Hausärztin Aurelia Herzog verantwortlich für die Betreuung chronisch kranker Patientinnen im Einzugsgebiet der Praxis. Ausserdem betreut Thüring-D’Amico jeweils am Dienstag Bewohnende des Altersheims. Ergänzend zur Arbeit macht sie den Master in Nurse Practitioner – bei dem sie ihr pflegerisches und medizinisches Wissen vertieft. Kurz vor 10 Uhr steht sie vor der Haustüre der ersten Patientin.

Die Aufgaben unterscheiden sich von jenen der Spitex:

«Ich berate die Patientinnen und Patienten
pflegerisch und mache gleichzeitig erste
Abklärungen, die für eine Diagnosestellung
und Behandlung nötig sind.»

Diese würde in einer Praxis ohne Pflegeexperten die Hausärztin durchführen. Ausserdem erfüllt sie auch medizinische Aufgaben, die von der Ärztin delegiert wurden, wie zum Beispiel das Blut nehmen für die Messung des Blutzuckers.

Die ärztliche Verantwortung für die Patientinnen und Patienten trägt nicht Thüring-D’Amico, sondern die Praxisleiterin Aurelia Herzog. Eine gesundheitliche Veränderung bespricht die Pflegeexpertin dann mit der Ärztin, wobei die Ärztin definitiv entscheidet, wie geholfen werden kann.

Die Pflegeexpertin greift bei der Arbeit auf ihre bisherige Berufserfahrung zurück: «Das bisherige Wissen und das Zusatzstudium bieten mir optimale Bedingungen, um im Praxisalltag adäquat zu reagieren.»

Pilotprojekt lief bis Anfang Jahr

Gemeinsam mit dem Zentrum für Hausarztmedizin und Community Care Universität Luzern haben Flavia Thüring-D’Amico und Aurelia Herzog das Arbeitsmodell Pflegeexpertin in einer Hausarztpraxis erarbeitet. Bis Anfang Jahr lief ein entsprechendes Pilotprojekt mit Unterstützung des Kantons.

Damit leistet die Praxis Pionierarbeit im Kanton Luzern. «Es hat mich gefreut, dass wir dem Kanton aufzeigen konnten, dass wir in Bezug auf Qualität und Zufriedenheit der Patienten und Praxismitarbeiterinnen sehr gute Rückmeldungen erhalten haben», sagt Thüring-D’Amico. Für die 35-Jährige ist klar:

«Um die Grundversorgung auf dem
Land sicherzustellen, brauchen wir
innovative Lösungen.» 

Beim ersten Hausbesuch merkt man, dass sie einen kompetenten, vertrauensvollen und herzlichen Umgang mit den Patientinnen und Patienten hat. Sie sprechen nicht nur über strikt medizinische Themen, sondern beispielsweise auch darüber, wie sie den Alltag bewältigt, oder wie es ihr psychisch geht.

Für die zweifache Mutter aus Schenkon ist dementsprechend wichtig zu betonen, dass sie nicht einfach eine «kleine Ärztin» sei: «Für mich steht der pflegerische Aspekt im Zentrum.»

So fällt ihr beim Besuch auch eine kleine Verletzung am Arm der Patientin auf und sie fragt nach: «Ist die neu?»

«Ich glaub schon, bin aber nicht sicher.»

«Sieht aus, als hätten Sie sich irgendwo angeschlagen. Haben Sie Schmerzen?»

«Nein, nein. Ist nur etwas Kleines.»

Keine Kapazität mehr für Hausbesuche

Für Flavia Thüring-D’Amico ist klar, dass eine Stärkung im pflegerischen Bereich auch die Qualität der hausärztlichen Versorgung aufrechterhalten kann. «Gerade Hausbesuche gehören eigentlich zur Kernaufgabe eines Hausarztes. Aufgrund der demografischen Entwicklung und dem Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten haben die meisten aber keine Kapazität mehr dafür.»

Einen Mehrwert für die Gesundheitsversorgung bieten Hausbesuche laut Flavia Thüring-D’Amico aber allemal. Gerade ältere Leute kämen ungern in die Praxis, weil sie nicht mehr so mobil seien:

«Patienten rufen teils an und fragen,
ob ich vorbeikommen kann.
Das Angebot wird sehr geschätzt.»

Auch bei der Medikamentenversorgung kann sie regulierend eingreifen. «Teilweise nehmen Patientinnen und Patienten ihre Medikamente nicht korrekt ein. Wenn ich dies erkenne, schauen wir uns die Medikamente gemeinsam an», erklärt sie. Beim zweiten Hausbesuch fragt sie entsprechend auch, wie es mit den verschriebenen Medikamenten läuft. Prompt stellt sich heraus, dass das eine die Patientin sehr müde macht, und sie es deshalb nicht mehr einnimmt. «Diese Gespräche ermöglichen uns, eine geeignetere Lösung zu suchen, und so die Qualität der Versorgung zu verbessern.»

Krankenkasse bezahlt nicht genug

Die Finanzierung der Rolle der Pflegeexpertin ist jedoch noch nicht klar geregelt. Bei der Krankenkasse kann nur ein Teil der Leistung abgerechnet werden, weil der Aufwand zur Vor- und Nachbesprechung nicht abgebildet wird.

Die Praxisleiterin Aurelia Herzog ergänzt: «Die Kostenfrage ist sicher ein Hindernis für andere Praxen, eine Pflegeexpertin oder einen Pflegeexperten einzusetzen.» Viel entscheidender sei aber, dass zu Beginn der Zusammenarbeit zusätzlicher Aufwand für den Hausarzt oder die Hausärztin anfalle. «Es hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis wir so harmonisch zusammenarbeiten konnten», erinnert sie sich.

«Am Anfang ist eine enge Begleitung
der Pflegeexperten durch die Hausärztin nötig,
um das Vertrauen aufzubauen.»

Mittlerweile lohne sich die Zusammenarbeit aber auch zeitlich. «Wir können insgesamt mehr Patientinnen und Patienten betreuen», sagt Aurelia Herzog.

Weiteres Projekt könnte bald realisiert werden

Nun hat das Zentrum für Hausarztmedizin und Community Care, Universität Luzern, ein Folgeprojekt beim Kanton eingereicht. Ziel ist es, eine vertiefte Studie mit mehreren Praxen zu machen. Das Okay des Kantons steht noch aus. Die zwei Pionierinnen würden dem Folgeprojekt in beratender Rolle zur Seite stehen.

Dieser Artikel ist am 26. Juli 2022 auf www.luzernerzeitung.ch in leicht abgeänderter Form erschienen.

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