«Es ist unwürdig, wie man mit diesen Leuten umgeht» – Damian Müller kritisiert Bundesrat

Damian Müller und Prisca Birrer-Heimo wollen, dass Betroffene der Krankheit, die landläufig und stigmatisierend «Chronisches Erschöpfungssyndrom» genannt wird, nicht alleingelassen werden. Der Bund schiebt die Verantwortung aber ab.

Das Hotel Schweizerhof erleuchtet aus Solidarität mit ME/CFS-Betroffenen in blauer Farbe. Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. Mai 2023)

Stellen Sie sich vor, Sie haben absolut keine Energie. Ein Sonnenstrahl, sogar der Lärm einer weit entfernten Baustelle treibt die Erschöpfung weiter voran. Duschen oder aufs WC-Gehen macht die Erschöpfung noch grösser. Sie haben kaum erträgliche Schmerzen, Konzentrationsstörungen und Muskelschwäche. Aber kein Arzt weiss, was los ist. Nicht der erste, nicht der dritte, nicht der zehnte. Das ist die Realität von Tausenden ME-Betroffenen in der Schweiz. 

Menschen mit ME fallen durch alle Raster des Gesundheitssystems. Viele Ärztinnen erkennen die Symptome nicht, und Vertreter der Invalidenversicherung tun Betroffene oft als Simulanten ab. So begeben sich viele auf einen Husarenritt, um richtig diagnostiziert und von den Versicherungen akzeptiert zu werden. Die Belastung dieser Suche nach Antworten und Unterstützung von Seite IV ist oft so gross, dass die Krankheit noch schlimmer wird. Denn wenn Betroffene über ihre Belastungsgrenze hinausgehen, führt das zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands.

Vorstösse stossen auf wenig Interesse

Sowohl Damian Müller, Luzerner FDP-Ständerat, als auch Prisca Birrer-Heimo, Luzerner SP-Nationalrätin, wollen die Situation der Betroffenen verbessern. Seit 2015 haben sie insgesamt vier Vorstösse eingereicht. Ein wichtiger Grund für das Engagement von Damian Müller: In seinem persönlichen Umfeld ist jemand von der Krankheit betroffen. «Wenn man einmal gesehen hat, wie es jemandem mit dieser Krankheit geht, dann weiss man: Da muss sich etwas ändern.»

Bisher bleibt der Einsatz der beiden Politiker ohne grösseren Erfolg. In den Antworten auf die Vorstösse verweist der Bundesrat jeweils auf «die zuständigen Fachorganisationen». Diese sollen den Forschungsstand zusammenfassen und «Leitlinien zur Diagnostik und Therapie entwickeln».

Diese Antwort konsterniert Damian Müller und Jonas Sagelsdorff, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS (SGME). Der Grund: Erstens gibt es gar keine Fachorganisation und zweitens existieren bereits Leitlinien – von den US-Gesundheitsbehörden. Der Bundesrat schiebe die Verantwortung also ab. Auf nicht existente Fachorganisationen – «oder auf die Kantone», erklärt Müller. Dies, weil die Kantone für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. «Das ist eine Verschieberei ohne Lösungsweg», nervt sich Müller. «Das muss offensichtlich national koordiniert werden.»

Prisca Birrer-Heimo gibt zu bedenken: «Man ist von der Verwaltung immer vorsichtig, verbindliche Aussagen zu machen, weil es grosse Kostenfolgen haben könnte.» Und sie ergänzt: «Es herrscht grosse Sorge, was eine Anerkennung kostenmässig bedeutet. Das geht über die Krankenkasse hinaus; auch die IV müsste dann mehr Renten bezahlen.»

Doch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht mache es keinen Sinn, das Problem hinauszuschieben, ist Damian Müller überzeugt: «Die Kosten dieser Krankheit sind riesig. Denken Sie schon nur an die Betroffenen, die keine Ausbildung machen können und nicht mehr arbeiten können. Dazu kommt das Umfeld, die Familie, die oftmals wegen des Betreuungsaufwands nicht mehr arbeiten kann.» Die SGME beziffert die gesamtwirtschaftlichen Kosten auf über drei Milliarden Franken pro Jahr.

Betroffene erhalten falsche Diagnosen

Der Bundesrat ist nicht bereit, konkrete Massnahmen zu erlassen, und sonst fühlt sich niemand zuständig. Dadurch ist der Leidensdruck der Betroffenen riesig. Rund 60’000 Menschen sind in der Schweiz von der Krankheit betroffen – die Zahl hat sich aufgrund von Long-Covid-Fällen verdreifacht. 60 Prozent von ihnen sind arbeitsunfähig. Jeder Vierte ist ans Haus gebunden. Viele sind bettlägerig. Schwerstbetroffene können sich im Bett nicht mehr selber umlagern und müssen sogar künstlich ernährt werden. Trotzdem ist es schwierig, eine korrekte Diagnose zu erhalten, geschweige denn eine IV-Rente.

Die Konsequenzen der mangelnden Information durch die Behörden zeigt eine Studie eines Schweizer Forschungsteams eindrücklich auf. Diese hat ergeben, dass Betroffene hierzulande durchschnittlich elf Ärzte aufsuchen, bis sie eine Diagnose erhalten. Zuvor kommt es im Schnitt zu zwei bis drei falschen Diagnosen. Eine grosse Mehrheit der Befragten geben an, sie hätten sich bei Arztbesuchen nicht ernst genommen gefühlt. Eine 51-Jährige aus dem Kanton Aargau schreibt:

«Ich habe es aufgegeben, in der Schweiz zu Ärzten zu gehen. Ich ging nach London, wo ich mit ME/CFS diagnostiziert wurde. Zurück in der Schweiz, gab ich den Bericht meinem Arzt, der sagte, dass es das nicht gibt.»

Damian Müller sagt: «Es ist unwürdig, wie man mit diesen Leuten umgeht.» Danach gefragt, warum es denn nicht vorwärtsgeht, obwohl offensichtlich ein Missstand besteht, zuckt er mit den Schultern. Er wisse es schlichtweg nicht. «ME/CFS wurde lange Zeit völlig zu Unrecht als psychosomatisch stigmatisiert. Vielleicht führt dies dazu, dass die Tragweite der Krankheit immer noch unterschätzt wird.» Etwas Ratlosigkeit ist zu spüren. Frustriert sei er aber nicht: «Das ist halt Politik. Manchmal hat man die Mehrheiten, manchmal nicht.»

Birrer-Heimo sagt dazu: «Ich war überrascht, dass nicht mal das Postulat überwiesen wurde, das ja nur einen Bericht vom Bundesrat verlangt.» Klar ist für sie: «Damian Müller und ich allein haben zu wenig Macht, um das Problem zu lösen.»

Ärzte müssen Krankheit kennen und verstehen

In anderen Ländern wurde die Politik schon aktiv. Die USA haben einiges an Forschungsgeldern gesprochen und offiziell erklärt, dass ME/CFS eine körperliche Krankheit ist. «Das hat zur Entstigmatisierung beigetragen, was wiederum die medizinische Versorgung verbessert», sagt Sagelsdorff. Er ist sicher: Das wäre auch in der Schweiz ein wichtiger erster Schritt. 

Hier könnte auch die Ärzteschaft voranschreiten – das erhofft sich auch das Bundesamt für Gesundheit. Doch symptomatisch ist die Einschätzung der Luzerner Ärztegesellschaft: «ME/CFS ist eine Krankheit, deren Ursache bis heute nicht geklärt ist. Gerade deshalb ist es in der Schulmedizin schwierig, dafür eine geeignete Therapie zu finden.» Jonas Sagelsdorff erklärt: «Die endgültigen Ursachen sind nicht bekannt, aber das ist bei vielen Krankheiten so und heisst nicht, dass es unmöglich ist, die Betroffenen gut zu behandeln.»

Trotz aller Schwierigkeiten: Die Luzerner Politiker werden weiterkämpfen. Müller sagt: «Wir müssen diesen Leuten eine Stimme geben, die keine Kraft haben, selbst Einfluss zu nehmen.»

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